23 May 2023
Museale Ausstellungen haben traditionell eine kanonisierende und ordnende Funktion. Die Anordnung von Objekten entlang einer übergeordneten Erzählung gleicht der Vorstellung von Geschichte als Aneinanderreihung von Ereignissen, die wie die Perlen einer Kette auf eine Schnur gezogen sind. Wie der britische Soziologe Tony Bennett in The birth of the museum darlegt, ging historisch mit der musealen Darstellung von Geschichte häufig auch die Vermittlung einer Fortschrittsgeschichte einher: Im Rückblick der Ausstellung laufen die Ereignisse auf ein progressiveres Heute zu, das die dargestellte Erzählung vorgibt.
Bereits der Titel der von Dezember 2022 bis November 2024 im Deutschen Historischen Museum gezeigten Sonderausstellung deutet den intendierten Bruch mit dieser Tradition von geradliniger Geschichtserzählung an. Roads not taken steht über der vom Historiker Dan Diner konzipierten Schau, die “anhand von 14 markanten Einschnitten der deutschen Geschichte […] die Wahrscheinlichkeiten von ausgebliebener Geschichte” zeigen möchte. Es geht der Ausstellung also um das Sichtbarmachen jener nicht eingeschlagenen Weggabelungen und der in diesen liegenden situativen Offenheit von Geschichte, die im Rückblick normal unsichtbar bleibt.
Die in der jeweiligen Gegenwart vorhandene Offenheit der Zeitgeschichte wird den Besucher*innen anhand von 14 Stationen der deutschen Geschichte, vom Scheitern der Revolution von 1848/49 bis zur gelungenen Überwindung der SED-Diktatur im Jahr 1989, präsentiert. Dabei verläuft die Erzählrichtung im Großen wie im Kleinen von der Gegenwart in die Vergangenheit. Nicht nur beginnt der Ausstellungsrundgang mit dem Jahr 1989 und endet mit dem Jahr 1848, sondern auch innerhalb der einzelnen Stationen werden vom dargestellten, realgeschichtlichen Ereignis aus die oft prekären und nur im Zusammenspiel hinreichenden Vorbedingungen gezeigt, die es ermöglichten – und die gleichzeitig einen alternativen Verlauf vorstellbar machen.
So sind die im Zentrum stehenden Ereignisse, unter ihnen beispielsweise der Bau der Berliner Mauer oder das ausbleibende, aber historisch mögliche Eingreifen der Reichswehr bei der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, immer durch zwei Ausstellungstafel gerahmt, wobei erstere den realgeschichtlichen Verlauf, letztere das fiktive, jedoch in der historischen Konstellation mögliche, Alternativereignis darstellt. Vermittelt werden der faktisch-historische Ereignisverlauf und der nicht verwirklichte durch Fotografien, Dokumente, Infografiken und eine geringe Zahl von Originalexponaten, die die Nähe von beiden Möglichkeiten veranschaulichen: Zwischen dem Abwurf der ersten US-amerikanischen Atombombe auf Ludwigshafen statt auf Hiroshima steht die gescheiterte Sprengung der Brücke von Remagen, die den alliierten Vormarsch deutlich verlangsamt und die deutsche Kapitulation verzögert hätte. Neben einer elaborierten Infografik, die den Wettlauf des deutschen Uranprojektes mit dem Manhattan-Projekt visualisiert, ist zwischen den beiden Ereignisverläufen ein kleines Stück Mauerwerk der Brücke vitriniert.
Die Nähe von möglichen Geschichtsverläufen wird auch in Ausstellungsgrafik- und architektur übersetzt. Innerhalb der ersten Station zum Jahr 1989 werden historische Fotografien der erfolgreichen und friedlichen Proteste in der DDR solchen der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste auf den Tian’anmen-Platz in der Volksrepublik China gegenübergestellt. Ein großformatiges Lamellenbild zeigt aus der einen Blickrichtung das ikonisch gewordene Bild der rollenden Panzer der chinesischen Volksbefreiungsarmee, auf der anderen die von Menschenmassen erklommene Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor.
Wo diese Darstellungsform aufgeht, wird die Konstellation sichtbar, die die oft nur prekäre Voraussetzung für den eingetretenen Verlauf der Geschichte ist.
Das klar strukturierte Ausstellungskonzept kann auch als Übersetzung eines Bestandteils von Diners Denken in die Form musealer Geschichtsrepräsentation verstanden werden: Der 1988 erschienene und von ihm herausgegebene Band Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz prägt bis heute die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoa. Was die verschiedenen Beiträge des Bandes eint und was der inzwischen in die Alltagssprache aufgenommene Titelbestandteil “Zivilisationsbruch” auf den Begriff bringt, ist die Erkenntnis, dass sich die nationalsozialistischen Massenverbrechen an den europäischen Juden weder auf Basis von rationalem Verhalten erklären, noch in den Kategorien der klassischen Geschichtsschreibung repräsentieren lassen. Utilitarismus und schematisches Kausalitätsdenken stoßen an ihre Grenzen, versucht man den grundlosen, gegenrationalen und an Erlösungsphantasien gebundenen Massenmord im Rückblick zu verstehen. Fortschrittsdenken und teleologische Geschichtsauffassung, die für die Geschichtsschreibung vor Auschwitz charakteristisch sind, erscheinen vor dem Hintergrund der “an Sinnkategorien gemessen tatsächlich sinnlosen Vernichtung” (Dan Diner) nicht nur hinfällig, sondern erkenntnishemmend.
Die Notwendigkeit von neuen Formen des geschichtlichen Denkens wird in dem Band anhand der Werke verschiedener Protagonist*innen des “Denkens nach Auschwitz” deutlich gemacht. So interpretiert Seyla Benhabib die politische Theorie Hannah Arendts als eine Form des “Geschichte erzählens”, die sich von einer Geschichte der sequentiellen Notwendigkeit verabschiedet und diese stattdessen als offene Anordnung versteht, in der sich zu bestimmten Zeitpunkten unterschiedliche Elemente zu einem Ereignis kristallisieren. Arendt erteilt nach Benhabib einer auf simple Kausalzusammenhänge fixierten Geschichtsschreibung und einem Denken in Analogien eine Absage und macht stattdessen Spontaneität und Offenheit eines jeden geschichtlichen Moments stark.
Geht es dem Band von 1988 und den darin dargelegten Positionen also darum, den rigiden und für die Repräsentation des Präzedenzlosen unzureichenden Kategorien und Modi der traditionellen Geschichtsschreibung neue Formen entgegenzusetzen, die die Beschreibung der Shoa und des Nationalsozialismus erst möglich machen, versteifen sich auch die “Roads not taken” dargestellten Erzählungen – die sich im Gegensatz zu dem erwähnten Sammelband nicht auf NS und Shoa fokussieren – nicht am eigenen Konzept. So bricht die Ausstellung in einer Station mit dem strukturierenden Schema der Klammer aus Real- und Alternativgeschichte: Während bei den 13 übrigen Stationen die abschließende Ausstellungstafel mit einem “Oder:…” den nicht eingetretenen Geschichtsverlauf einleitet und dann anreißt, ist die entsprechende Tafel innerhalb der Darstellung des gescheiterten Attentats vom 20. Juli 1944 mit “Zu spät!” betitelt – die jüdische Bevölkerung Europas wurde zu diesem Zeitpunkt bereits größtenteils ermordet, den Verschwörern ging es nicht um ein Ende des nationalsozialistischen Massenmords, sondern schlicht um Schadensbegrenzung für das deutsche Reich. Eine chronologisch angeordnete Fotostrecke mit Aufnahmen von Deportationen von 1941 bis 1944 und die zugehörigen Bildtexte unterstreichen, wie wenig das in der deutschen Imagination überhöhte und als entlastender Identifikationsmoment fungierende Attentat einen tatsächlichen Unterschied für den Großteil der Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft dargestellt hätte.
Die Darstellungsform linear-chronologisch oder strikt systematisch erzählter Geschichte zu verlassen ist mutig und eine Herausforderung. Von der Vermittlung von alternativen Geschichtsverläufen ist es, wie eine Masse an populärwissenschaftlicher Literatur zeigt, nicht weit zum Fantasieren von oft nur schlecht kaschierten Rache- oder Überlegenheitsphantasien, von situativer Offenheit nicht weit zum Eindruck der reinen Zufälligkeit. “Roads not taken”, und das lässt sich auch durch den Seitenblick auf das übrige Werk des für das Konzept verantwortlichen Dan Diner erklären, gelingt die Vermittlung von Ereignissen als Ergebnis von spezifischen Konstellationen gut. Dies liegt auch an der konsequenten Gestaltung und der passgenauen Kuration. Höchstens den Medieneinsatz könnte man bemängeln: Im letzten Raum liegen in “Gamestationen” Tablets bereit, auf denen ein im Graphic-Novel-Stil gestaltetes Videospiel läuft. Besucher*innen können hier selbst in den Oktober 1989 eintauchen. Angeschlossen am Ende des Rundgangs und unvermittelt zu den übrigen Ausstellungsinhalten wirken die Spielmöglichkeiten wie ein Nachgedanke. Trotzdem verdeutlicht die Schau eindrucksvoll und plastisch, wie sich Geschichte denken lässt und wie offen Zeitgeschichte ist. Sie mahnt in diesem Sinne auch an die immer gegenwärtge Verantwortung fürs Jetzt und Morgen.
17 Feb 2022
Im Sommer 1946 schildert Gershom Scholem Hannah Arendt in einem Brief
seinen Eindruck der intellektuellen Atmosphäre im Nachkriegsdeutschland:
„Würden die Amerikaner heute Heidelberg räumen, würde Jaspers…” –
Karl Jaspers ist von November 1945 bis Herbst 1949 Mitherausgeber der
Monatszeitschrift „Die Wandlung”, welche ihrem Selbstverständnis nach an
der Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur im
postnationalsozialistischen Deutschland mitwirken will –„ […]
nach 3 Tagen tot sein.” Mehr als eine Dekade
nationalsozialistische Herrschaft, Massenmord und die Emigration derer,
die das Glück hatten entkommen zu können, ließen nur wenig übrig von
einer während der Weimarer Republik vielfältig vorhandenen Geistes- und
Wissenschaftslandschaft. Die folgende Betrachtung nimmt ihren
Ausgangspunkt in der Rückkehr zweier Emigranten in das Geistesleben der
Bundesrepublik einige Jahrzehnte nach dem zitierten Brief Scholems an
Arendt. Sie erzählt eine Geschichte über das intellektuelle Klima des
Nachkriegsdeutschlands, in welchem sich zwei aus ihrem Exil nach Europa
zurückgekehrte jüdische Intellektuelle einer sich intellektuell gebenden
Neuen Rechten gegenübersehen. Die Debatte verweist zudem auf Parallelen
in den Denkbewegungen von Ulrich Sonneman und Vilém Flusser – zweier
Denker, die beide dezidiert über die technologische und mediale
Bedingtheit des „Menschlichen” sowie über die Rolle des Bildhaften für
des subjektive und gesellschaftliche Bewusstsein nachdachten, aufgrund
ihrer idiosynkratischen Herangehensweisen jedoch häufig singulär
betrachtet werden.
Gerd Bergfleth, der 1936 geboren wird, Philosophie, Literatur und
Gräzistik studiert und seit Mitte der 1970er Jahre die Werke von Georges
Bataille und Jean Baudrillard ins Deutsche übersetzt, publiziert seit
1978 in der Zeitschrift „Konkursbuch”, welche sich als kritisches
Gegenprojekt gegen das für die westdeutsche Studentenbewegung höchst
relevante “Kursbuch” verstand. Bereits 1978 publizierte Bergfleth hier
einen Aufsatz mit dem Titel „Kritik der Emanzipation”, in welchem er
„Vernunft” und „Emanzipation” – gemeinhin Leitideen des linken Milieus,
welchem das publizierende „Konkursbuch” entstammt – einer
grundsätzlichen Kritik unterzieht: Anders als beispielsweise Theodor W.
Adorno und Max Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung” – gegen
die sich Bergfleth explizit wendet – identifiziert er in dem Aufsatz
keine regressiven Momente innerhalb des aufklärerischen Denkens, welche
in ihrer Verwirklichung die Aufklärung in ihr Gegenteil verkehren,
sondern kritisiert und verwirft Vernunft und Emanzipation pauschal als
Wegbereiter einer nahenden technokratischen Herrschaft.
Eine kritische Entgegnung auf diese Absage an Emanzipation als Leitidee
wird durch einen Autoren verfasst, welcher dem weiteren Umfeld der
„Frankfurter Schule” zuzurechnen ist, jedoch vergleichsweise wenig
Resonanz erfahren hat: Ulrich Sonnemann, der aufgrund seiner
antifaschistischen Haltung und seiner jüdischen Herkunft 1933 das
nationalsozialistische Deutschland verlässt, 1940 in Belgien
festgenommen wird, in Frankreich nacheinander in den Lagern Le Viegeant,
St. Cyprien und Gurs interniert wird, 1941 in die USA emigriert, und
nach seiner Rückkehr nach Deutschland Mitte der 1950er Jahre mit der
Kritischen Theorie rund um das Institut für Sozialforschung in Kontakt
kommt, schreibt 1980 für die fünfte Ausgabe des „Konkursbuchs” einen
Beitrag, der den Bergfleths in seiner regressiven Tendenz
kritisiert. Er ist zweifach charakteristisch für Sonnemann: Zum
einen steht er exemplarisch für sein regelmäßiges Eingreifen in
gesellschaftliche Debatten der Bundesrepublik. So äußert sich Sonnemann
in den 1960er und 1970er Jahren unter anderem in der Satirezeitschrift
„Der
Metzger”
und im „Merkur” zu aktuellen
Debatten und veröffentlicht 1970 eine Untersuchung zu deutschen
Schulbüchern sowie ein
Buch,
welches den Skandalprozess um die vermeintliche Ermordung des Münchener
Arztes Otto Praun und dessen Geliebten Elfriede Kloo von 1961/62
aufarbeitet und kurz nach seinem Erscheinen verboten und beschlagnahmt
wird.
In seinen kritischen Eingriffen in das Zeitgeschehen drückt sich aus,
was seine Philosophie im Allgemeinen auszeichnet: Das Beibehalten
menschliche Spontaneität und Freiheit als Fluchtpunkte trotz ihres
Ausbleibens, die feinfühlige Analyse der Bedingungen, die sie verhindert
haben, das Offenlegen der Spuren, die die gesellschaftliche Herrschaft
in den Menschen hinterlassen hat und die laut Sonnemann durch große
Teile der philosophischen Tradition mit „dem Menschlichen” verwechselt
werden. Spontaneität als nicht verwirklichte, menschliche Eigenschaft,
durch welche im Zusammenhang mit erfahrender und reflektierender
Wahrnehmung aus scheinbar vorgezeichneten Handlungsabfolgen ausgebrochen
werden könnte, sowie die Bedingungen ihrer Verunmöglichung, ziehen sich
als Leitmotiv durch Sonnemanns Werk. So trägt seine 1969 erschienene
„Negative Anthropologie” den Untertitel „Vorstudien zur Sabotage des
Schicksals” – welcher als Absage an jegliche determinierende und
übergeschichtliche Tendenz zu verstehen ist, die philosophischer
Anthropologie gemeinhin vorzuwerfen ist. Dem Anspruch des Titels folgend
entfaltet Sonnemann in dem Werk den Kerngedanken, dass eine
allgemeingültige, positive Bestimmung des menschlichen Wesens unmöglich
sei, da ein Versuch der Bestimmung als Ergebnis nur jene Eigenschaften
hervorbringen könnte, die die historisch gegebenen Bedingungen
menschlicher Existenz als Spuren hinterlassen haben. In dieser
antiaffirmativen Haltung von Sonnemanns „Negative[n] Anthropologie”,
welche sich einer identifizierenden Bestimmung verneint und „das
Menschliche” nur ex negativo und als erst zu verwirklichend in die
Zukunft verlagert, zeigt sich eine Affinität zu Theodor W. Adornos
„Negative Dialektik”, welche sich auch intertextuell durch einen Verweis
in der Vorrede von Adornos Werk manifestiert. Ontologisierendes und
abschließendes Denken, welches Sonnemann in seiner „Negativ(n)
Anthropologie” parallel zu Adornos Kritik des identifizierendem Denkens
als Fallstrick jeglicher positiven Anthropologie ausmacht, ist auch sein
kritischer Zugriff auf Bergfleths „Kritik der Emanzipation”: Die so
geartet Verwendung des Freiheits- und Emanzipationsbegriffes durch
Bergfleht spiegelt sich nach Sonnemanns Analyse in den schiefen
sprachlichen Bildern, welche jener in seiner Diskreditierung der
Emanzipation aufwendet. So verkenne Bergfleths Rede einer „Freiheit
selbst auf der Suche nach ihrer absoluten Grundlosigkeit” sowohl die
historische Situiertheit von Befreiungsprozessen – welche Freiheit zum
Ziel haben, sie aber bis zu gewissem Grade bereits voraussetzen –, als
auch den negativen Charakter solcher Prozesse, die statt ex ante einen
zu erreichenden Zustand zu identifizieren, sich am Gegebenen
orientieren, Hindernisse identifizieren und negieren und dadurch
Freiheit schrittweise ermöglichen. Sonnemann versteht Bergfleths Text
deshalb erwiderungswürdig, da er ihn nicht singulär, sondern als
Bestandteil einer größeren „Tendenzwende” nach rechts im deutschen
Intellektualismus sieht: Die in Folge der identitätslogisch
argumentierten Absage an Emanzipation und Freiheit entstehende
Leerstelle drohe durch Versatzstücke reaktionärer Ideologie gefüllt zu
werden, welche in ihrer Introspektion, Nostalgie und Todessehnsucht
Wegbereitern des Nationalsozialismus, wie Oswald Spengler, nahesteht.
Sonnemanns Kritik verdinglichten Denkens und dessen Affirmation von
Herrschaft findet ihre Fortführung auch in seinem Projekt einer
Transzendentalen Akustik, welches die Ausrichtung seines Spätwerks
prägt und jüngst Thema einer Monographie von Martin
Mettin wurde.
Erkenntnisleitendes Interesse von Sonnemanns Reflektionen ist die Frage
nach der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung der Ausformung der
menschlichen Sinne. Verdinglichendes Denken, welches sich der Herrschaft
andient und welches bereits in seiner „Negative[n] Anthropologie” Ziel
der Kritik ist, wird hier mit der hierarchischen Entwicklung der
menschlichen Sinne kontextualisiert, welche in eine Dominanz
registrierenden und objektivierenden Sehens über das erfahrende und
reflektierende Hören mündet. Sonnemann verdichtet diese Geschichte der
Wahrnehmung, welche er ideengeschichtlich auf die Opposition zwischen
jüdischem Bilderverbot, welches im Kontext einer dialogischen
Auslegungstradition steht, und dem Sehprimat der antiken griechischen
Philosophie zurückführt, in dem Begriff der „Okulartyrannis” oder der
„optischen Tyrannei”: Die Herrschaft einer instrumentellen und
herrschaftsförmigen Weltwahrnehmung auf der sinnlichen Ebene, welcher im
Sinne einer wirklich menschlichen Zukunft eine empathisch erfahrende
Variante entgegengestellt werden müsste. In seinem 1987 erschienen
Aufsatz „Zeit ist Anhörungsform. Über Wesen und Wirken einer kantischen
Verkennung des Ohrs” macht Sonnemann deutlich, wie allumfassend und
grundsätzlich sich die Vorherrschaft des registrierenden Sehens über das
erfahrende Hören manifestiert: Er führt in einer ideengeschichtlichen
Reflexion die dominante, lineare und sequentiell einteilbare Vorstellung
von Zeit auf schauende und verräumlichende Wahrnehmung zurück.
Sonnemann, der dieser Zeitvorstellung und -erfahrung eine akustisch
fundierte, welche ihren Ursprung an der nicht linearen Eigenerfahrung
von Herzschlag und Körper hat, entgegensetzt, geht es hierbei nicht nur
um eine Kritik einer am Primat der Objektivität ausgerichteten Vernunft,
welche keinen Platz für menschliche Sinneswahrnehmung lässt, sondern
auch um eine Herrschaftskritik: Raum- und Zeitvorstellung, welche durch
die von Sonnemann taxierte Sinneswahrnehmung bestimmt werden, sind, wie
die Notwendigkeit von messbarer Zeit für die Kommodifizierung von Arbeit
und die Disziplinierung der Gesellschaft zeigt, nicht von
gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen zu trennen.
Vier Jahre nach Sonnemanns Replik auf Bergfleths „Kritik der
Emanzipation” legt letzterer nach: Im Münchener Verlag Matthes & Seitz
erscheint Bergfleths Sammelband, „Zur Kritik der palavernden
Aufklärung”, dem er als Autor vier Beiträge beisteuert. Einer dieser
Beiträge mit dem Titel „Die zynische Aufklärung” bestätigt das
Fortschreiten der Tendenzen, welche Sonnemann in seinem Aufsatz zur
„Tendenzwende” ausgemacht hat: Bergfleth macht nun explizit die
„zurückgekehrte deutsch-jüdische Intelligenz” dafür verantwortlich, dass
im Zuge einer Umgestaltung Deutschlands nach deren „weltbürgerlichen
Maßstäben” ein „eigenständige[r] deutsche[r] Geist” verloren
gegangen wäre (S. 180). Dieser antisemitische Vorwurf einer Zersetzung
der nationalen Eigenart durch Gedankengut, welches als jüdisch
konnotiert wird, hat nicht nur eine lange Geschichte, sondern findet
sich auch im verschwörungstheoretisch fundierten – und wie Martin Jay
aufgezeigt hat, von der
autoritären Linken bis zur extremen Rechten rezipierten– Diskurs um den
sogenannten „cultural marxism”, in welchem eine karikaturhaft verzerrte
Version der Frankfurter Schule für einen vermeintlichen Werteverfall
verantwortlich gemacht wird.
Auch ideengeschichtlich projiziert Bergfleth die ausgemachte Misere von
Entwurzelung in der Moderne auf „den mächtigen Einfluß […], den das
säkularisierte Judentum auf die aufklärerische Moderne ausgeübt hat.”
(S. 181) Folglich fordert Bergfleth auch – keine 40 Jahre nach der
Befreiung von Auschwitz –, dass der „ewige” Hinweis auf den
Antisemitismus ein Ende haben müsse und im Gegenteil zu fragen sei, „was
der Prosemitismus der Linken” anrichtete (S. 181). In seiner projektiven
Phantasie, welche auf tradierte antisemitische Bilder – die Juden als
„zersetzende”, heimatlose Gruppe, welche für alle negativen
Begleiterscheinungen der Moderne verantwortlich seien und welche durch
die Propagierung des Universalismus „deutsche Eigenart […], etwa die
romantische Sehnsucht, die Verbundenheit mit der Natur, oder die nicht
auszurottende Erinnerung an eine heidnisch-germanische Vergangenheit”
(S. 181) vernichten würden – zurückgreift, kommt Bergfleth zu Schlüssen
wie „Demokratisierung heißt Anpassung, und Anpassung heißt
Gleichschaltung” (S. 186) und schließlich zu der auffordernden
Feststellung, dass ein „Untergang im Sinn des Neuanfangs” herbeizuführen
wäre. Bergfleth hat nun also die von Sonnemann hellsichtig erkannte
Tendenzwende vollständig vollzogen indem er sich nicht nur explizit
antisemitischer Bilder und Denkmuster bedient, sondern in der
vermittelten Todes- und Auferstehungssehnsucht auch das von Roger
Griffin in „The Nature of Fascism” als Kernelement faschistischer
Ideologie ausgemachte Konzept der Palingenese als Fluchtpunkt seiner
Überlegungen setzt.
Über den Zwischenschritt eines Artikels von Hans-Joachim Lenger in der
Zeitschrift „Spuren in Kunst und Gesellschaft” findet Bergfleths
Text die Aufmerksamkeit des 1972 nach Europa zurückgekehrten
Medienphilosophen Vilém Flusser. 1920 in Prag geboren flieht der einer
jüdischen Akademikerfamilie entstammende Flusser 1939 nach Eingliederung
der damaligen Tschechoslowakei in das „Protektorat Böhmen und Mähren”
durch NS-Deutschland zunächst nach London, von dort weiter nach
Brasilien. Dort entfaltet Flusser ab den 1950er Jahren eine produktive
philosophische Tätigkeit, die sich in einer Vielzahl von Manuskripten,
Artikeln und Büchern – geschrieben auf Englisch, Französisch,
Portugiesisch, Deutsch und Tschechisch – niederschlägt und sich auch
nach seiner Rückkehr nach Europa 1972 fortsetzen wird. Flussers Denken
ist geprägt durch die Erfahrung des Holocaust – seine gesamte Familie
wird in Konzentrationslagern ermordet – und des Exils und geschult am
Existentialismus Heideggers und der Phänomenologie Husserls. Der
nationalsozialistische Massenmord wird in seinen Schriften selten
explizit Thema, ist jedoch insofern Subtext, als Flusser nach den
kulturellen und technologischen Bedingungen sowie ihren Wirkungen auf
den Menschen fragt, welche in der Moderne dominant wurden und, seiner
Ansicht nach, am Aufstieg des Faschismus beteiligt waren. In seinem
Denken spielt, die Form der Medialität von Gesellschaft eine enorme
Rolle, da sie Denken und Selbstverständnis des Menschen prägt. In „Lob
der Oberflächlichkeit” skizziert Flusser eine Art
Geschichtsphilosophie, welche sich auf die Art der „Codes” konzentriert,
welche die als kommunikatives Netz vorgestellte Gesellschaft fundieren
und konfigurieren: Die Einführung der linearen Schrift hätte die
Dominanz der „magisch” wirkenden und unmittelbar wahrnehmbaren Bilder
gebrochen und durch die sequentielle Anordnung der Zeichen
hintereinander ein gesellschaftliches Zeitbewusstsein geschaffen. Aus
der Potentialität der auch Zahlen umfassenden linearen Schrift, welche
Natur beschreibbar und letztlich beherrschbar macht, entwickelt sich
nach Flusser die Moderne und letztlich, über den Schritt der Erfindung
der Fotografie, das technisch-digitale Medienuniversum, welches unsere
gegenwärtige Lebenswelt prägt. Aus dieser medien- und
technologiezentrierten Perspektive sind es die Umbrüche in der so
fundierten kommunikativen Struktur der Gesellschaft, welche historische
Entwicklungen erklären: Die entfremdenden und verdinglichenden Folgen
von Technologisierung, Bürokratisierung und instrumenteller Wissenschaft
sind für Flusser, wie er in seinem nie veröffentlichten Manuskript „Unto
the Third and Fourth Generation”, entstanden in den 1960er Jahren,
darlegt, die fatalen Grundlagen für Nationalsozialismus und
antisemitischen Massenmord. Die bereits hier anklingende medien- und
technologiekritische Perspektive, welche das bildhaft „magische” Denken
der Idolatrie dem kausalen Denken der Schrift und dem
„nachgeschichtlichen” Denken der Digitalkultur gegenüberstellt, zieht
sich als Strang durch Flussers Werk. So verweist Flusser in seinem 1983
publizierten „Für eine Philosophie der Fotografie”, nachdem er den
historischen Widerstreit zwischen „magisch” wirkenden Bildern und
geschichtliches Bewusstsein stiftenden Texten skizziert hat, auf die
gesellschaftlichen Gefahren, die sich aus der Dominanz der durch die
Erfindung der Fotografie entstandenen „technischen Bilder” und den
resultierenden Veränderung des Bewusstseins und der
Kommunikationsstruktur ergeben: Die Bilder übersetzen die Realität in
scheinbar eindeutige Sachverhalte und befreien die Betrachtenden von der
Notwendigkeit des begrifflichen Denkens. Gleichzeitig erkennt Flusser im
Fotoapparat und allgemein in der Vielzahl nun präsenten Apparate eine
eigene Machtsphäre, welche die Menschen zu Funktionären der Apparate
macht und somit wirkliche Autonomie verhindert. Diese Kritik weist
augenscheinliche Parallelen sowohl zu Sonnemanns Kritik der
„Okulartyrannis” auf – beide verstehen die Dominanz der Bilder als
potenziell reflexionshemmend – als auch zur Kritik der
„Kulturindustrie” der Kritischen Theorie. Während letztere jedoch einen
gesellschaftskritischen Ansatz verfolgt, und zwar Medien und Technologie
mit in den Blick nimmt, letztlich diese aber in erster Linie auf ihre
herrschaftsförmige Funktion hin befragt und immer auf die materielle
Basis rekurriert, bleibt Flussers phänomenologischer Blick an Technik
und Medien hängen. In seiner Übertragung von gesellschaftlichen
Dynamiken auf die Ebene der Technik, bei gleichzeitiger Ausblendung von
Ideologie, materieller Basis und Gruppeninteressen, ähnelt Flussers
Ansatz einer Weiterentwicklung der Thesen, die Martin Heidegger bereits
1954 in „Die Frage nach der Technik” formuliert hat. Im
Gegensatz zu Heidegger formuliert Flusser jedoch an verschiedenen
Stellen einen utopischen Entwurf einer menschlich-technologischen
Zukunft, in welchem durch weitgehende technologische Automatisierung ein
Freiheitsgewinn für alle Menschen errungen wird. Im Zentrum dieser
utopischen Vorstellung steht, wie in seinem Aufsatz „Vorschrift.
Nachtrag zur Schrift”, veröffentlicht im August 1985 in den „Spuren
in Kunst und Gesellschaft”, die Verwirklichung Dialogischer
Kommunikation – womit sich auch auf Ebene des dem überwältigenden
Bildhaften Entgegengesetztem eine Parallele zu Sonnemann zeigt, welcher
das erfahrende Hören im Gegensatz zum registrierenden Sehen ebenfalls
mit dem Dialogischen konnotiert. Diesem Aufsatz beigefügt ist eine
Leserbrief Sonnemanns, der sich direkt an Bergfleth richtet und sich auf
dessen „Die zynische Aufklärung” bezieht: Er versteht Bergfleths
antisemitischen Text als jüdischer Autor, der inzwischen wieder auf
deutsch publiziert, als direkt ihn betreffend und verdeutlicht
gleichzeitig, dass jener Antisemitismus der Grund war, warum er über
Jahre nicht mehr deutschsprachig publizierte.
In der gleichen Ausgabe der „Spuren in Kunst und Gesellschaft” wird ein
Auszug von Sonnemanns Replik auf Bergfleth von 1980 mit einem Nachsatz
Sonnemann zur aktuellen Auseinandersetzung abgedruckt: Er stellt fest,
dass die in seiner fünf Jahre zuvor prognostizierte Tendenzwende sich in
Bergfleths Fall manifestiert hat, dass dieser aufgrund verschlossener
Ohren die kritische Replik nicht wahrnahm und an Vilém Flusser
gerichtet, dass dieser die Wahl der Publikationssprache nicht von
Bergfleth abhängig machen solle.
In den über 30 Jahren, die seit der dargestellten Auseinandersetzung
vergangen sind, hat sich weltweit die dominante mediale Struktur auf so
enorme Weise verändert, dass der philosophische Subtext der
Auseinandersetzung – die kritisch bis utopische Medientheorie Flussers
und die Anthropologiekritik und Sinnesphilosophie Sonnemanns – wohl
eher an Relevanz zu-, statt abgenommen hat. Für die seit mindestens
einer Dekade stark drängende Frage, wie die suggestive Macht der in den
sozialen Medien algorithmisch vermittelte auf uns einströmende Masse an
vor allem bildhaften Inhalten gesellschaftlich und politisch einzuordnen
und zu kritisieren ist, wäre es ein fruchtbares Unterfangen, sich die
Werke beider Denker ins Gedächtnis zu rufen. Dabei ist trotz der
scheinbar diametralen Fundamenten ein synergetisches Vorgehen denkbar:
Flussers hellsichtiger und phänomenologischer Blick auf die
technologische und mediale Infrastruktur könnte durch Sonnemanns Kritik
von Ontologisierung und Anthropologisierung ergänzt werden, um nicht
verkürzend gesellschaftliche Dynamiken auf die „Apparate” zu
projizieren, sondern eine tatsächlich herrschaftskritische Perspektive
einnehmen zu können. Anlässe dazu gibt es genug: In Kreisen der Neuen
Rechten und des Umfelds des sogenannten „Dark Enlighenments” lebt die
Absage an Emanzipation und Aufklärung, wie Sonnemann sie bei Bergfleth
diagnostizierte, teilweise gekoppelt mit einem technologisch
konzeptualisierten Akzelerationsimus, fort. Angesichts dieser
Bedrohungen ist kritisch emanzipatorische Theoriebildung, welche Medien,
Technologie und die „Herrschaft der „Bilder” mit in den Blick nimmt,
wohl notwendiger denn je.